Erschienen:
Brigitte
6/2010

Tina Uebel
Ozeanische Gefühle
Unter Segeln ins Eis. Von Feuerland in die Antarktis und, widerwillig, zurück.

„Das ist Paradise Bay“, sagt Chef; ich sage, „ich weiß, ich seh’s.“ Ganz deutlich. Zweifelsohne. Paradise Bay. Was sonst. Ich fotografiere mich gerade wund daran. Die irrwitzige Schönheit läßt mich hyperventilieren. Eis in allen Formen treibt auf dem makellos glatten Wasser der Bucht, die kein Ende nimmt, erwähnte irrwitzige Schönheit verdoppelt sich in perfekter Spiegelung zum gestreckt galoppierenden Wahnsinn. Mein breites Grienen ist ebenso eingefroren wie meine Finger auf dem Auslöser der Kamera. Eigentlich hat meine Wache längst begonnen, mir aber ist das grad herzlich schnuppe, einer der treuen, verläßlichen Männer mit Bärten hat das Ruder übernommen, man fährt aus gutem Grund nicht auf Kaperfahrt ohne Männer mit Bärten. Gipfel und Gletscher rahmen Paradise Bay in Opulenz. Ein Berg zieht eine elegante Eiskante mit kalligraphischem Schwung seine Flanke entlang und erschafft sich in der Wasseroberfläche ein zweites Mal, man wird allein vom Hinsehen betrunken. Die Sonne geht seit geraumer Zeit unter und setzt das allförmige Eis auch noch in allen nur denkbaren Farben in Szene. Eisberge, Eistrümmer, Eisschollen, Eisbrocken. Weiß, blau, grün, türkis, lila, gelb, orange, rosé. Epiphanien in Eis. Hinter uns türmen sich Wolken zur Inszenierung des Endes der Welt, was soll’s, hier und jetzt könnten auch noch zweihundert Einhörner durchs Bild galoppieren, wir würden wohl kaum mit der Wimper zucken. Als ob’s darauf noch ankäme.

Vor das Paradies hat Gott, dessen Finger hier selbst ein atheistisches Aas wie ich im Spiel wähnt, naturgemäß das Fegefeuer gesetzt, das für Kaperfahrer wie uns den Namen Drake Passage trägt. Eine Passage etwas, aus dem man geläutert hervorgeht, und wahrlich, das taten wir.

Wir, die wir auf Kaperfahrt gehen. Einen Tag vorm Ankerlichten trudeln wir ein, in Ushuaia, Feuerland, der südlichsten Stadt der Welt. Acht Leute, sechs Männer, zwei Frauen, alle haben wir unsere Träume im Gepäck nebst dem Ölzeug: Kap Horn, Drake Passage, dann: Die Antarktis. Gut 600 nautische Meilen von hier, über 1.000 Kilometer, die antarktische Halbinsel, der Wurmfortsatz des schönen, sturen, grausamen Kontinents, der derzeit durch global warming in den Medien omnipräsent ist und sich doch unserer Wahrnehmung entzieht. Keiner, der nicht dort war, kann sich eine auch nur vage Vorstellung machen, sonst bräche uns der Gedanke an jeden Schaden, den sie nehmen könnte, das Herz.

Die Antarktis. Die niemandem gehört, alle Territorialansprüche durch den Antarctic Treaty auf, sozusagen, Eis gelegt. Die den Menschen während ihres langen, lichtlosen Winters nur in raumstationartigen Bedingungen überleben läßt. Deren kalte Seele unter einer vier Kilometer hohen Eisdecke schlummert. Deren Küsten die furiosen Geschichten erzählen von Wagemut, Verlockung, Vermessen­heit, Entdeckergeist, Eitelkeit, Scheitern und Triumph ihrer menschlichen Eroberer. Die Geschichten vom Flirt des Menschen mit dem Garnichts. Einer Welt, bestehend aus Weiß und Blau. Eis und Himmel. Die Geschichten von Shackleton, Scott, Amundsen, Nordenskjöld, Gerlache, Drygalski, Bellinghausen. Ich trage sie bei mir, im Gepäck, im Herzen, im Seesack, gleich neben Ölzeug und Thermounterwäsche.

Sie vertragen sie sich gut mit all den Kap-Horn-Geschichten, die meine künftigen Mitsegler mit sich führen. Atavistische Geschichten in einer postheroischen Welt. Was uns doch egal ist, sonst würden wir schließlich nicht an Kap Horn vorbei in die Antarktis segeln wollen. Was genau das ist, was wir innerhalb der nächsten drei Wochen vorhaben.

Wolf Kloss, unser Käpt’n, ist Antarktis-Segelpionier seit 20 Jahren und lädt in Ushuaia zur argentischen Begrüßungsgrillorgie. Die Santa Maria Australis, sein – und somit unser – Antarktisschiff, ist von geradezu schockierender Luxuriösität. Zwanzig Meter Länge, Teakdeck, gediegener Salon. Zwei Masten, wenngleich wir das Besansegel nie fahren werden. „Wozu eigentlich hat man den Besan“, frage ich, die ich mein nautisches Leben auf deutlich kleineren Einmastbooten führte; „Zum Frauenbeeindrucken“, sagt Chef; und was soll ich sagen: Es wirkt.

Jochen, der Zweite Offizier an Bord, ein Jungspund mit langen Rastalocken und preußischer Disziplin, nimmt nicht am Steakgelage teil sondern repariert irgendwas an Bord. Jochen, so werden wir feststellen, repariert immer irgend etwas. Organisiert, ordnet, kocht. Zeigt mir, wie man Joghurt macht, das Dinghi an Deck vertäut, Taue nicht gegen ihren eigenen Twist aufschießt. Er segelt erst seit vier Jahren, seit er hier hängen blieb auf seiner Backpacker-Weltreise. Ich segle seit fünfundzwanzig Jahren und weiß nicht ein Viertel von dem, was er spielerisch beherrscht. Ich kann ihn nur fassungslos angucken und fragen, warum er eigentlich mit 28 schon so schlau sei und ich mit 40 immer noch so doof.

Und unsere kleine Farm: Wilfried, langjähriger Kojencharterer in, bislang, immer nur der Karibik. Die Wolfgänge, zwei davon, gestandene Segler mit Bärten, die Sorte Männer, ohne die sich unmöglich auf Kaperfahrt fahren ließe. Cedric, junger Franzose auf Weltreise, allein unter Deutschen, niemals zuvor gesegelt. Rhino, Österreicher auf Diät. Cedric, sein Wachkumpan, animiert ihn mit Häppchen, sanften Drohungen und Schmeicheleien zum Essen. Angela aus Neubrandenburg, die derzeit in Neuseeland studiert. Und Alex, mein ganz großes Los, mit dem ich die Wache teilen werde.

Die Wachen bestimmen fortan unser Leben. Zwei-Mann-Paarungen, die das Ruder nachts zweistündig, tags dreistündig übernehmen. Der Wachgenosse ist Teampartner, Spießgeselle, Komplize und Quasiverlobter für alles, was kommt. Was kommt, ist die Drake, und sie kommt am nächsten Abend, sie kommt mit Wucht.

Die Drake hat den unangefochtenen Ruf, das härteste Stück Meer der Welt zu sein, meine Mutter war mindererfreut, das zu ergooglen. Fegefeuer. Abends noch geschmeideten wir im Beaglekanal zwischen kargen Inseln hindurch, während sich Delphine um unseren Bug herum verlustierten, nachts kommt der Sturm. Mit zehn von zwölf möglichen Beaufort-Windstärken. Mit Rock’n’Roll.

Der Sturm, die Drake. Alles ist Wind und graue Wogen. Sie türmen sich, wir mogeln uns durch und drüber hinweg. Wenigem wohnt größere Schönheit inne als einem Segelboot im Sturm. Wir segeln mit briefmarkengroßem Tuch und nichtsdestotrotz segeln wir. Der Wind fegt Gischt und Brecher über das Deck. Der Wind ist überall und die See ist ewig. Ich bin norddeutsch, ich bin ein Connaisseur des Graus. Alles Grau der Welt, heulender Sturm in der Takelage. Wir würden’s genießen, ginge es uns nicht fundamental erbärmlich.

Die wenigen Gespräche bei der Wachablösung drehen sich um Skopolamin-Pflaster gegen Seekrankheit oder Dimenhydrinat-Tabletten oder um die Kombination von beidem. Seltener um Nahrungsmittel, der Verzehr eines Zwiebacks gilt als gewagt.

Liegen geht. Am Ruder stehen und den Horizont sehen geht. Alles andere geht gar nicht. Da nur Liegen geht, prökel ich mich vor Wachbeginn liegend in meine diversen Schichten Funktionswäsche plus Daune plus Ölzeug, hurte dann schnellstmöglich hinaus – und bin gefoppt, denn es ist nachts viel zu dunkel, um irgendeinen Horizont zu sehen. Nur der Wind singt, als hätte er das Ende aller Dinge beschlossen.

Alex und ich frieren und hadern und lachen uns durch unsere Nachtwachen, mit allen Witzen dieser Welt, die wir gegen all den Wind dieser Welt in Stellung bringen können. Alex und ich lachen uns morgens die Welt drei statt zwei Stunden zurecht, während die Sonne, die aufgehen sollte, sich in dem ganzen Grau verheddert haben muß. Chef äugt aus dem Niedergang und fragt, ob wir Suppe wollten; sag nicht so schmutzige Wörter zu mir, sage ich. Ab und zu laß ich es richtig krachen und trinke eine halbe Tasse Kamillentee. Seekrankheit: Im ersten Stadium hat man Angst zu sterben; im zweiten ist es einem egal, ob man stirbt; im dritten wünscht man sich nichts sehnlicher, als endlich sterben zu dürfen. Willkommen in der Drake.

An Tag Vier geht es mir gut. Verblüffend. Hatten wir alle bislang jede wachfreie Stunde zum Schlafen genutzt, bin ich auf einmal – wach. Überwach. Hyperaktiv. Trinke den ersten Kaffee seit drei Tagen, das Leben hatte sich nie besser angefühlt.

Mein unverwüstlicher Alex ist der erste, der das Land sieht. An Tag fünf. Aus lauter Wolken räkeln sich Wolken, die keine sind, sondern eisige Gipfel. Am nächsten Morgen feiern wir mit einer Dusche, die wir uns nur selten leisten, der Wassermacherkapazität wegen, und schippern in die vulkanische Kraterlandschaft von Deception Island ein.

Gänzlich unberührt ist die antarktische Halbinsel nicht. Weitgehend eisfrei im südlichen Sommer, balgen sich hier die Kreuzfahrer um Ankerzeiten, schiffen ihre Passagierhundertschaften in Zodiac-Schlauchbooten an Land, Kontingent für Kontingent. Ich bin dafür, denn niemand wird Protest schreien, wenn der Antarctic Treaty aufgekündigt wird, der nicht weiß, wovon wir reden. Daß wir von dem Kontinent, größer als Australien, reden, der niemandem gehört, keiner Nation, der sich feindselig uns Menschen verweigert, in dessen Angesicht sich in erster Linie Ehrfurcht und, ich führe solch Worte nicht leichtfertig im Schlunde, Demut einstellt, als berühre man ein überaus kostbares Juwel. Sehnsucht, in Eis komprimiert wie Kohlenstoff in einem Diamant.

Wir streunen durch die Überbleibsel der Walfangstation in Whalers’ Bay, schiefgewehte Hausruinen, entblößte Gräber, Gebeine von Booten ragen aus vulkanischem Sand. Wind fegt die Hänge hinunter. Tote Pinguine, am Strand zerfleddert. Ein Arrangement von Vergeblichkeit. In den gebeugten zylindrischen Trankochkesseln eine surreale Akustik, nur traue ich mich nicht zu singen, und auch sonst keiner.

Wir ankern nachmittags in der Telephone Bay, und wir machen Ausflug. Ausflug lautet fürderhin unser Schlachruf, für’s Rausgehen, Erobern, Entdecken, sind wir nicht unter anderem dafür hier? Keiner, der uns hielte. Keine Kreuzfahrt-Herdenzwänge. Ich überlege mir einen Weg hinauf auf den Berg und stehe eine Stunde später dort oben. Wind faucht durch mich als besäße ich keinerlei Substanz. Ich blicke über leere Küste zu Inseln aus Eis. Hinunter blicke ich auf unser Schiffchen, das klein und allein aussieht. Hier hört mich keiner, hier kann ich singen. Bis Cedric nachkommt, dann gehen wir gemeinsam zurück. Cedric legt sich am Strand noch mit einigen großen Robben an, ich lasse das lieber, ich traue der ganzen ausufernden Fauna hier nur bedingt.

Die Fauna. Wale, nah und fern, mal distanzierte Fluken, mal nehmen sie im U-Boot-Format Kollisionskurs auf. Robben jeglicher Provenienz, böse See­leoparden, die unschuldige kleine Pinguine totspielen wie übermütige Katzen. Pinguine noch und nöcher. Laut Antarcitc Treaty sollten wir zum Tierleben fünf Meter Distanz mindestens halten, nur hat das den Pinguinen keiner vorgelesen, dementsprechend belästigen sie uns auf Tuchfühlung. Skua-Raubmöwen, hardboilded, mit Italowesternattitüde. Und die Albatrosse in der Drake, schön und zugegen wie Gedanken.

Wollüstige Tage im Eis. Wir arbeiten uns Seillänge für Seillänge voran, einen Berg hinauf, vielleicht nur einen Hügel, alles aber verliert sich im Schneetreiben, der Schnee ist derart solide, wir sehen einander nicht. Wir sind zu dritt. Steil ist es und auf Gletscherspalten gilt zu achten, auf dem Gipfel  sieht man, wieder mal, aufs klitzekleine, ephemere Boot hinunter. Sieht man über die Inseln zwischen Challenge und Bluff Island, große Gletscher hocken darauf wie müde alte Biester mit zerfurchten Gesichtern und faltigen graublauen Körpern. Dann schluckt der Schnee die Welt. Er wird seine Gründe haben.

In der Bucht von Foyn Harbour legen wir uns neben das Wrack eines alten Walfangbootes. Schnee, überall. Sturm, warnt uns das Satellitenwettersystem, und wir schmiegen uns an den rostigen Rumpf als hätten wir Angst. Dann gehen wir auf Ausflug, während wir auf den Sturm warten. Ein hochgefährliches Unter­fangen, entbrennt doch die Mutter aller Schneeballschlachten zwischen der Schlauchbootcrew, unter Führung von Chef, und Jochen und seinen Mannen an Deck. Der Schnee liegt halbmeterhoch. Jochen beharkt uns noch über das Wrack hinweg. Wir entkommen nur knapp.

Setzen über zu einem Inselchen, mogeln uns an der indignierten Tierwelt vorbei, erklimmen das Berglein, rollen mannsgroße Schneebälle zusammen und wuchten sie aufeinander, modellieren Arme, Beine, Ohren, Lippen, während der Schnee die Welt wegfegt, wir sind das gewohnt, wir arbeiten an den Nasenflügeln und an den Brüsten, auf die sich meine kleine und ausschließlich männliche Peergroup flugs geeinigt hat. Die Schneefrau ist größer als wir, wir machen Fotos, das Eis ist größer als irgendwas sonst.

Am nächsten Morgen ist das Boot so tief verschneit, wir müssen erst einmal mit Handfegerschaufeln schneeschippen, bevor wir’s überhaupt wiederfinden. Dann aber ist es, als wäre nichts geschehen, und wir ziehen vondannen.

Alles ist Eis. Eisberge, Eistrümmer, Eisschollen, Eisbrocken. Die Santa Maria Australis setzt dem 8mm Aluminiumrumpf entgegen. Das ist gut, aber soviel ist es auch wieder nicht. Einer von uns steht am Bug und weist den Weg durchs Eis, durch all das Eis. Ich habe jedesmal Sorge, es zu verreißen. Alex ist grandios, er ist der Natural-Born-Gucker. Ich werde viel zu bescheiden und demütig, wenn mir die Ewigkeit in Eis beim Arbeiten zusieht. Alex und ich kurven durch den Lemaire-Kanal, den möglicherweise schönsten Ort auf Erden, in Schnee und Nebel, und ecken nicht anstößig an. Auf dem Rückweg, Tage oder Jahre später, wird die Sonne scheinen, das Eis noch dichter sein, und alle Worte kapitulieren angesichts des drängenden Tumults von Eis und Fels, der uns zuleibe rückt.

Ankern in kleinen Buchten, in denen uns haushohe Gletscher umarmen. Zwischen Inselchen in Kanälen, durch die Jochen im Schlauchboot uns den Weg findet. Das Festmachen mit Landleinen dort, wo man nicht ankern kann, wir tüddeln halbkilometerlange Landleinen um geologische Gegebenheiten, hämmern Haken in Fels, die nicht halten, „Notfalls den ganzen Berg einfassen“, ruft Chef dem Dinghiteam zu, das schweißgebadet am Tau zerrt; „Du stehst auf der Leine“, sagt Alex; Chef guckt nach unten, erkennt das Problem, sagt: „Na und?“ Ich habe soviel Spaß, man benötigte eine Lizenz dafür.

Port Lockroy, britisch-historischer Antarktisposten, in Wind und Wellen, wo wir Postkarten schreiben, die sich erst in neun Monaten auf irgendeinen Weg machen werden. Grantige Ukrainer auf ihrer Station Vernadsky. Kap Renard, wo ein Gletscher kollabiert ist und eine Passage sich aufgetan hat zwischen zwei Inseln, Ausflug, wir erkunden unter Jochens Ägide ein Stück Welt, das seit Äonen seiner Erkundung harrte. Es ist so gottverdammt flach, daß wir den Außenborder hochnehmen und paddeln müssen. Auf der anderen Seite kreuzt die Santa Maria Australis zwischen Eisbergen und wartet auf uns, und ich liebe dieses Boot und seine Crew. Wolfgang II hat abends einen Single-Malt-Whisky spendiert, verschwindet daraufhin an Deck, um einen kleinen Eisberg zu fangen, wir trinken unseren Whisky auf Eis. Essen morgens frischen Joghurt und abends Jochens ausufernde Dinner und wir lachen den ganzen Tag viel.

Währendessen um uns das Eis. Das Eis immer da, so ewig, wie könnte man ohne es auskommen. Als die Tage schmelzen, sage ich, wir müssen weiterfahren, eigentlich, niemand widerspricht. Wir fahren durch einen sonnigen Tag, Eisberge wie Skulpturen auf Vernissage, fahren in die Paradise Bay, „Das ist Paradise Bay“, sagt Chef; ich sage, „Ich weiß.“ Ist ja kaum zu übersehen.

Das Eis. Als würde man sich nicht großäugig und schweigend zerfasern und einfach auflösen darin. Mit der Seele grienend einmal quer über den Horizont.

Am Abend darauf kreuzen wir durch den Melchior-Archipel, der Himmel liegt auf uns, als sei er betrübt. Die über alles gestülpten Gletscher umfangen uns mütterlich und zögern, uns gehen zu lassen. Wir aber müssen gehen, der nächste Sturm dräut mit feingliedrigen Symbolen auf dem Computermonitor. Wir sollten weiterfahren. Immer weiter. Wir müssen stattdessen zurück.

Die Wache auf der Drake, als wir 10 Knoten fuhren, unter Segeln. Als Sonne durch die Sturmwolken brach und alles nur See war und Segel und Meer, großes graues Meer. Und nimmermüder Wind.

Bei Kap Horn gehen wir an Land. Nach gut 1.500 Seemeilen. Ein Denkmal in fragwürdiger Ästhetik steht dort. Auf einer Tafel das Kap-Horn-Gedicht. Es handelt von dem Albatros, der die Seelen all der namenlosen toten Seefahrer auf seinen Schwingen in die Ewigkeit trägt. Die Albatrosse haben uns begleitet wie unsere Gedanken, fleischgeworden als hübsche, plumpe Vögel. Wir alle absentieren uns voneinander. Allein mit den Geschichten, versunkenen Schiffen, vergessenen Stürmen, Sehnsüchten, ozeanisch und polarweiß. Daß auch ich ergriffen gewesen wäre, in der letzten kühlen Böe auf den Klippen von Kap Horn, würde ich gewiß nicht erzählen. Ich wäre ja weitergesegelt, einfach noch ein bißchen weiter. Dorthin, wo das Eis mit dem Himmel schäkert, und dann noch bis kurz dahinter. Und dann mal gucken, was noch so geht. Denn mit zwei Masten und 8mm Aluminium, da ginge doch so einiges. Südgeorgien. Der Polarkreis. Ein Ausflug, ein ganz großer. Ins Eis. Wohin sonst.