Es heißt ja immer wieder, in den westlichen Augen sähen alle Asiaten gleich aus und seien nicht voneinander zu unterscheiden. Ich kann dies ganz und gar nicht bestätigen, denn für mich sehen auch alle Westler gleich aus, ohne daß ich sie unterscheiden, geschweige denn mir merken könnte. Zugegeben, Variation der Haarfarbe mag als hilfreiches Indiz zur Personenerkennung dienen, aber nicht mir, ich kann mir Haarfarben ebenfalls nicht merken. Insofern habe ich hier in China auch keine größeren Schwierigkeiten als daheim – begrüßt mich jemand mit einer Herzlichkeit, die auf innige Bekanntschaft schließen läßt, gebe ich Wiedererkennen vor, erwidere die Herzlichkeit, vermeide Namensnennung und versuche durch geschickte Gesprächsführung unauffällig herauszufinden, wer zum Henker mein Gegenüber eigentlich ist. Läßt man seinen Blick allerdings in beliebiger Runde schweifen, kann zumindest ich nicht finden, die hiesigen Physiognomien zeigten sich im geringsten weniger individuell als die anderer Ethnien; daß ich im Gesichtervergessen keinerlei ethnische Unterschiede mache, spricht ebenfalls für diese Ansicht, allerdings nicht für mein Gedächtnis. Wie’s umgekehrt so läuft, ist schwer zu sagen, Klil und ich jedenfalls sind schon manchmal verwechselt worden – die Sache mit der Haarfarbe (zwei Blondinen) kann anscheinend auch kontraproduktiv wirken.
Mittwoch, 20. Oktober 2010
Chinesisch. Betrachtungen einer Ahnungslosen
Ein ganz anderer Schnack allerdings sind die Namen. Namen behalte ich genausogut wie Gesichter. Nun verhält es sich so, daß, laut Shanghai Daily, sich so gut wie alle Chinesen lediglich 100 Familiennamen teilen. De facto heißt jeder hier entweder Wang oder Chang, Wen oder Chen, was sich prinzipiell ja schon mal gut merken läßt. Bloß: Wer jetzt ein Wen ist und wer ein Wang, dies zu behalten ist ein Unterfangen, das mich umgehend in den Wahnsinn treibt. Erschwerend kommt hinzu, daß sich die Vornamen ähnlich und ähnlich einsilbig gestalten und anscheinend auch als Nachnamen nutzbar sind und umgekehrt. Eine rein phonetische Namensnennung ist ohnehin zum Scheitern verurteilt, da ein für’s westliche Ohr gleichklingender Sound eine gefühlte halbe Million unterschiedlicher Bedeutungen und immer noch sechs Dutzend Pinyin-Umschreibungen umfaßt. Erinnern wir uns noch an unsere Kinderüberzeugung, Chinesen sprächen Tsching-tschang-tschong? Nach ausgiebigen Recherchen und intensiver Einarbeitung in die Materie kann ich sagen: Genauso ist es.
Nur, daß die etwa zehn Millionen verschiedener „Tsch“, „Dsch“ und „Sch“s, wofür Pinyin eigentlich alle zur Verfügung stehenden Konsonanten und Konsonantenkombinationen nutzt – nicht nur, wie halbwegs zu erwarten, „sh“, „zh“, „ch“ und „j“, sondern auch „x“, „q“, letzteres empfinde ich als besonders widernatürlich – selbstverständlich zudem in der jeweils richtigen von den vier Intonationen (hoher Ton, steigender Ton, niedrig-fallend-steigender Ton, aha, achso, na klar, und fallender Ton) gesprochen werden muß, um Verständnis zu erzeugen. Um theoretisch Verständnis zu erzeugen. Praktisch erweise ich mich als sagenhaft gut im Erzeugen von Unverständnis. So jodele ich mich gegenüber Sarah, unserer fabulösen Dolmetscherin, ebenso tapfer wie völlig vergebens eine halbe Stunde hoch, runter, steigend, niedrigfallendsteigend und ganz besonders fallend, tief fallend geradezu, durch jede erdenkliche akustische Variation von „Huangshan“, bis ich schließlich erschöpft und heiser kapitulieren muß und stattdessen „Yellow Mountains“ sage. „Ach so“, sagt Sarah, „ich dachte, du hättest ‘Shan’ mit zwei Zeichen gesprochen statt mit einem.“
Die Zeichen. Schreiben kann man Chinesisch natürlich noch weniger als sprechen. Die Hundertschaften Nichtchinesen, die beides trotzdem können und nimmermüde betonen, das Hauptproblem beim Chinesischlernen wäre die Initialangst aufgrund des Unerlernbarkeitsmythos des Chinesischen, sind ein Produkt meiner blühenden Phantasie. Selbst Udo aus Xi’an, einer der weltweit allerbesten Dingeerklärer, ist sich über die Anzahl der existierenden chinesischen Zeichen nicht ganz im Klaren, es muß sich um irgendeine flamboyante fünfstellige Zahl handeln. In einem ostchinesischen Dorf haben unlängst, laut Shanghai Daily, 200 Leute ihren Nachnamen verloren, weil das Zeichen dafür so selten ist, daß es in Textverarbeitungsprogrammen nicht existiert. 200 Shans heißen jetzt also unwillentlich Xian. Was natürlich in keinerlei Hinsicht irgendwas mit dem „Shan“ in „Huangshan“ zu tun hat, geschweige denn mit der mutmaßlich viereinhalbstelligen Menge an weiteren „Shan“s, die sich in der chinesischen Sprache so rumtreiben und mit allen denkbaren „Chan“s und „Zhan“s und „Xian“s und „Xi’an“s und „Qian“s raufen werden (was die mögliche Existenz von „Xan“s und „Qan“s angeht, dazu konsultiere man wahlweise einen Linguisten, Logopäden oder Therapeuten).
Als seien damit nicht schon alle Maßnahmen zur Irremachung des noch so unbeteiligten Beobachters ergriffen, ist es bei einem chinesischen Zeichen unheimlich mordsmäßig wichtig, in welcher Reihenfolge man die Striche malt. Ein kleiner Selbstversuch an Andrés (von dem im Blog unter einem Landpartie-Bericht hoffentlich noch die Rede sein wird) iPhone-Wörterbuch-App, wesentlich professioneller als die meinen, ergibt das Resultat: Stimmt. Noch das schlichteste kleine Zeichen beharrt stur darauf, in genau der richtigen Reihenfolge gestrichelt zu werden, sonst gibt es seine Bedeutung nicht preis. Ein simples Kästchen ist sofort total beleidigt, malt man es in einem rationalisierten durchgehenden Strich. Nein, da gilt es erst zwei Kanten zu entwerfen, dann ein schamanistisches Tänzchen aufzuführen, die dritte Seite hinzuzufügen – aber ja nicht den Strich von unten nach oben machen, sondern schön von oben nach unten! –, Konfuzius zu rezitieren, dann die letzte Kante zu schließen – von links nach rechts natürlich. Was nach meinem Verständnis, bereits jetzt schon strapaziert in den Seilen hängend wie ein alternder Preisboxer, doch bedeuten muß, daß man nur ein Zeichen, das man schon kennt, ins Wörterbuch eingeben kann, um es kennenzulernen. Die Logik sackt neben dem Verständnis zusammen und läßt sich vom Trainer Luft zufächeln und Zuspruch spenden.
Dies zum Zeichnen der vier Striche eines rechteckigen Kästchens. Vier Striche ist natürlich ein Zeichen für ganz Arme. Udo stellt mir ein Zeichen (Näheres hier) vor, das aus sage und schreibe (bzw. in meinem Falle natürlich weder sage noch schreibe) 62, in Worten (ui, bin ich froh daß wir welche haben und nutzen!) zweiundsechzig Strichen besteht. Es bezeichnet: Eine Nudel. Eine Nudel! Ich sag mal, da schmiere ich mir doch lieber ein Butterbrot.
Wenig Faszinierenderes gibt es, als einen Chinesen beim Notizenmachen zu betrachten. Unlängst trug ich ein Paket zur Post, und da ich Adresse und Absender nicht im ganz hiesig korrekten Winkel zueinander angebracht (d. h.: aufgeklebt) hatte, sah sich der hilfsbereite junge Mann am Schalter gezwungen, beides erneut zu verfassen. Welch Anblick von Anmut und Schönheit! Hui, wie da der Kuli flitzte, wie sich harmonisch Schnörkel an Kringel fügte, wie geschwind sich ein Strichlein ans nächste schmiegte, wie zart das Bögelchen mit dem Kräuselchen tanzte, wie jäh eine kühne Gerade kreuz oder quer durch’s Gebinde fuhr! Es dauerte eine ungefähre halbe Stunde, und mich beschlich der Gedanke, daß das Chinesische, wenngleich von ergreifender Schönheit, vielleicht nicht mit dem Adjektiv „praktisch“ auf’s Präziseste bezeichnet wäre.
Ich bin mir sicher, hier wird mir stürmisch widersprochen werden, hege aber trotzdem den Verdacht, das sehen die Chinesen ähnlich. Weshalb sie zur Untersteichung der Schönheit und willentlichen Negierung jeder Pragmatik dann die Kalligraphie erfunden haben, die Kunst, aus all diesen Strichen auch noch besonders schöne Striche zu machen.
Ich hingegen tröste mich mit der Kunst, meine Grenzen viel deutlicher zu erkennen als Gesichter, koche mir Nudeln, die ich zärtlich „Pasta“ nenne, und sinniere darüber, was eigentlich an der Sache mit dem Esperanto so verkehrt gewesen sein soll.
Nur, daß die etwa zehn Millionen verschiedener „Tsch“, „Dsch“ und „Sch“s, wofür Pinyin eigentlich alle zur Verfügung stehenden Konsonanten und Konsonantenkombinationen nutzt – nicht nur, wie halbwegs zu erwarten, „sh“, „zh“, „ch“ und „j“, sondern auch „x“, „q“, letzteres empfinde ich als besonders widernatürlich – selbstverständlich zudem in der jeweils richtigen von den vier Intonationen (hoher Ton, steigender Ton, niedrig-fallend-steigender Ton, aha, achso, na klar, und fallender Ton) gesprochen werden muß, um Verständnis zu erzeugen. Um theoretisch Verständnis zu erzeugen. Praktisch erweise ich mich als sagenhaft gut im Erzeugen von Unverständnis. So jodele ich mich gegenüber Sarah, unserer fabulösen Dolmetscherin, ebenso tapfer wie völlig vergebens eine halbe Stunde hoch, runter, steigend, niedrigfallendsteigend und ganz besonders fallend, tief fallend geradezu, durch jede erdenkliche akustische Variation von „Huangshan“, bis ich schließlich erschöpft und heiser kapitulieren muß und stattdessen „Yellow Mountains“ sage. „Ach so“, sagt Sarah, „ich dachte, du hättest ‘Shan’ mit zwei Zeichen gesprochen statt mit einem.“
Die Zeichen. Schreiben kann man Chinesisch natürlich noch weniger als sprechen. Die Hundertschaften Nichtchinesen, die beides trotzdem können und nimmermüde betonen, das Hauptproblem beim Chinesischlernen wäre die Initialangst aufgrund des Unerlernbarkeitsmythos des Chinesischen, sind ein Produkt meiner blühenden Phantasie. Selbst Udo aus Xi’an, einer der weltweit allerbesten Dingeerklärer, ist sich über die Anzahl der existierenden chinesischen Zeichen nicht ganz im Klaren, es muß sich um irgendeine flamboyante fünfstellige Zahl handeln. In einem ostchinesischen Dorf haben unlängst, laut Shanghai Daily, 200 Leute ihren Nachnamen verloren, weil das Zeichen dafür so selten ist, daß es in Textverarbeitungsprogrammen nicht existiert. 200 Shans heißen jetzt also unwillentlich Xian. Was natürlich in keinerlei Hinsicht irgendwas mit dem „Shan“ in „Huangshan“ zu tun hat, geschweige denn mit der mutmaßlich viereinhalbstelligen Menge an weiteren „Shan“s, die sich in der chinesischen Sprache so rumtreiben und mit allen denkbaren „Chan“s und „Zhan“s und „Xian“s und „Xi’an“s und „Qian“s raufen werden (was die mögliche Existenz von „Xan“s und „Qan“s angeht, dazu konsultiere man wahlweise einen Linguisten, Logopäden oder Therapeuten).
Als seien damit nicht schon alle Maßnahmen zur Irremachung des noch so unbeteiligten Beobachters ergriffen, ist es bei einem chinesischen Zeichen unheimlich mordsmäßig wichtig, in welcher Reihenfolge man die Striche malt. Ein kleiner Selbstversuch an Andrés (von dem im Blog unter einem Landpartie-Bericht hoffentlich noch die Rede sein wird) iPhone-Wörterbuch-App, wesentlich professioneller als die meinen, ergibt das Resultat: Stimmt. Noch das schlichteste kleine Zeichen beharrt stur darauf, in genau der richtigen Reihenfolge gestrichelt zu werden, sonst gibt es seine Bedeutung nicht preis. Ein simples Kästchen ist sofort total beleidigt, malt man es in einem rationalisierten durchgehenden Strich. Nein, da gilt es erst zwei Kanten zu entwerfen, dann ein schamanistisches Tänzchen aufzuführen, die dritte Seite hinzuzufügen – aber ja nicht den Strich von unten nach oben machen, sondern schön von oben nach unten! –, Konfuzius zu rezitieren, dann die letzte Kante zu schließen – von links nach rechts natürlich. Was nach meinem Verständnis, bereits jetzt schon strapaziert in den Seilen hängend wie ein alternder Preisboxer, doch bedeuten muß, daß man nur ein Zeichen, das man schon kennt, ins Wörterbuch eingeben kann, um es kennenzulernen. Die Logik sackt neben dem Verständnis zusammen und läßt sich vom Trainer Luft zufächeln und Zuspruch spenden.
Dies zum Zeichnen der vier Striche eines rechteckigen Kästchens. Vier Striche ist natürlich ein Zeichen für ganz Arme. Udo stellt mir ein Zeichen (Näheres hier) vor, das aus sage und schreibe (bzw. in meinem Falle natürlich weder sage noch schreibe) 62, in Worten (ui, bin ich froh daß wir welche haben und nutzen!) zweiundsechzig Strichen besteht. Es bezeichnet: Eine Nudel. Eine Nudel! Ich sag mal, da schmiere ich mir doch lieber ein Butterbrot.
Das zweiundsechzigstrichige Nudelzeichen
Werbeschild eines Zweiundsechzigzeichennudelrestaurants
Wenig Faszinierenderes gibt es, als einen Chinesen beim Notizenmachen zu betrachten. Unlängst trug ich ein Paket zur Post, und da ich Adresse und Absender nicht im ganz hiesig korrekten Winkel zueinander angebracht (d. h.: aufgeklebt) hatte, sah sich der hilfsbereite junge Mann am Schalter gezwungen, beides erneut zu verfassen. Welch Anblick von Anmut und Schönheit! Hui, wie da der Kuli flitzte, wie sich harmonisch Schnörkel an Kringel fügte, wie geschwind sich ein Strichlein ans nächste schmiegte, wie zart das Bögelchen mit dem Kräuselchen tanzte, wie jäh eine kühne Gerade kreuz oder quer durch’s Gebinde fuhr! Es dauerte eine ungefähre halbe Stunde, und mich beschlich der Gedanke, daß das Chinesische, wenngleich von ergreifender Schönheit, vielleicht nicht mit dem Adjektiv „praktisch“ auf’s Präziseste bezeichnet wäre.
Ich bin mir sicher, hier wird mir stürmisch widersprochen werden, hege aber trotzdem den Verdacht, das sehen die Chinesen ähnlich. Weshalb sie zur Untersteichung der Schönheit und willentlichen Negierung jeder Pragmatik dann die Kalligraphie erfunden haben, die Kunst, aus all diesen Strichen auch noch besonders schöne Striche zu machen.
Die Schriftstellerin Wang Xiaoying gibt eine kleine Kalligraphie-Einführung
Ich hingegen tröste mich mit der Kunst, meine Grenzen viel deutlicher zu erkennen als Gesichter, koche mir Nudeln, die ich zärtlich „Pasta“ nenne, und sinniere darüber, was eigentlich an der Sache mit dem Esperanto so verkehrt gewesen sein soll.
Schriftsteller im kalligraphischen Selbstversuch
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